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Grenzen ziehen


Dieses Thema tauchte vor kurzem in einer Gesangsstunde mit einem Schüler wieder auf.


Was bedeutet das eigentlich?


Ich erinnere mich, dass ich das früher, vor ungefähr 10 Jahren, gar nicht konnte; ich wusste noch nicht einmal, dass es so was gab.


Wir werden ja so erzogen, dass wir immer lieb und freundlich hallo sagen sollen, bitte und danke, immer höflich und nicht harsch. Egal ob der Onkel uns unangenehm erscheint – oder die Metzgerin oder der Postbote. Früher wie heute scheint es okay, wenn fremde Menschen einem über den Kopf streicheln oder in die Wange kneifen, um ihre Anerkennung oder Zuneigung kundzutun. Egal ob einem das gefällt oder nicht. Früher hätten wir uns gewünscht, dass unsere Eltern eingegriffen hätten und heute müssen wir das selbst tun.


Aber ist das so einfach möglich, wenn man all die Jahre in dieser sozialen Konformität gelebt hat?


Wenn ich das Gefühl habe, jemand verhält sich übergriffig, also sagt entweder etwas Anzügliches oder Unpassendes, steht in einer Unterhaltung zu nah an mir dran, so dass ich das Gefühl habe, er/sie dringt in meinen Raum ein, oder schaut mich auf eine Weise an, die mir unangenehm ist, dann habe ich die Möglichkeit, weg zu gehen, zu sagen, ‚kannst du dich bitte ein bisschen weiter weg stellen, das ist mir zu nah‘ oder auch zu fragen, ‚warum kuckst du mich so komisch an?‘


Aber machen wir das wirklich? Und wenn ja, mit wieviel Überzeugung und Autorität, so dass die andere Person damit aufhört?


Ich fand es immer sehr schwer, zu anderen nein zu sagen oder sie darauf hinzuweisen, dass sie gerade etwas getan hatten, das mich irritierte oder verletzte. Ich wollte nicht, dass sie sich beschämt fühlten, obwohl sie eigentlich diejenigen waren, die sich beschämt fühlen sollten und nicht ich. Besonders wenn es Familienmitglieder waren und sehr nahe stehende Personen. Ich hatte Angst vor der Reaktion des anderen, vor der Heftigkeit, die dieses Sich-ertappt-Fühlen auslösen würde. Denn das konnte ich merken, es ist ein den anderen in die Verantwortung nehmen und das ist unangenehm, denn es bedeutet, dass ich mir selbst voll und ganz den Rücken stärken muss und nicht anzweifle, was ich da gerade wahrgenommen und ausgedrückt habe. Und dass es auch vollkommen in Ordnung ist, dass ich mich unwohl fühle. Das bedeutet nicht automatisch, dass der andere ein schlechter Mensch ist und ich ein guter oder umgekehrt. Es bedeutet nur, dass ich es mir wert bin, Stopp zu sagen zu einer Situation, die sich für mich übergriffig anfühlt und nicht ehrend meiner selbst ist.

Und wer kann das schon?


Wie viele Menschen – Hand aufs Herz – kennst du in deinem Umfeld, die ohne großes Aufsehen ganz selbstverständlich und ohne Groll und Aggression für sich einstehen?


Und das ist der Punkt: als ich verstand, dass kein Mensch Einblick in das hat, was ich fühle und selbst wenn jemand sagt, er empfindet es anders oder hat es anders gemeint, dann ist es für mich dennoch wahr. Und das gilt es zu ehren und ernst zu nehmen.


Denn nur von da aus kann man in einen Dialog gehen, ansonsten gibt es immer einen, der angreift und einen, der sich verteidigt oder rechtfertigt. Und das ist ein endloser Teufelskreis.


Das bedeutet auch, dass ich damit rechnen muss, dass mich Menschen auf einmal nicht mehr mögen, wenn ich plötzlich sage, was mir gut und was mir nicht gut tut. Vielleicht zeigt sich dadurch ein Arrangement, das in Wahrheit nie eine echte Freundschaft oder Beziehung war, sondern nur eine sich gegenseitig in ihrer emotionalen Verkrüppelung akzeptierende, missbräuchliche Zweckgemeinschaft.


Was bedeutet das für die Bühne?


Dieses Szenario ist auf alle Bereiche übertragbar. Darauf, wie Kollegen miteinander umgehen im Probenprozess zum Beispiel. Dass es in Ordnung und wichtig ist, Grenzen zu setzen und Unwohlsein auszudrücken stößt zwar auf scheinbar offene Ohren aufgrund der ganzen Bewegungen, die es mittlerweile gibt, aber mein Eindruck ist, dass das oft nur vordergründig ist. „Als richtiger Schauspieler sollte man doch keine Hemmungen haben, sondern bereit sein, alles zu spielen.“ Da will man dann natürlich nicht der- oder diejenige sein, die sich ‚ziert‘. Es ist eine Sache, mit seinen persönlichen Themen aufzuräumen, um ganz Instrument zu sein, aber eine andere Sache, nicht auszudrücken, sondern zu schlucken, was einem komisch vorkommt oder Schwierigkeiten macht. Dafür ist die gemeinsame Arbeit da, dass man darüber reden kann. Dafür ist sowieso jedes Miteinandersein da. Warum sonst sollten wir zusammen arbeiten und leben, wenn es nur darum geht, einander zu übertrumpfen oder auszustechen, die Schwächen gegeneinander auszuspielen.


Oft herrscht ein rauer Ton im Theater, es werden viele Scherze unter der Gürtellinie gemacht. Man zieht sich gegenseitig auf und wischt es vom Tisch als „War doch nur Spaß!“ Spaß entsteht für mich aus der Arbeit zusammen und durch den gegenseitigen Respekt und nicht aus der Langeweile heraus, aus der dann künstlich Erzeugtes und oft Gemeines entsteht, auf Kosten anderer.


Oft passiert das, wenn die Müdigkeit zunimmt oder auch die Unzufriedenheit und irgendein Ventil gesucht wird.


Wenn ich mich selbst ernst nehme, dann nehmen mich auch andere ernst und ich selbst wiederum kann so auch die andern ernst nehmen.

 
 
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