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Loslassen

Sarah Schütz



In letzter Zeit ist mir nochmal mehr aufgefallen, wie viel Härte mein Körper im Laufe der Jahre angenommen hat. Es fühlt sich an wie eine Schutzschicht um meine Schultern, Schulterblätter und mein Brustbein.


Ich spüre sie zum Beispiel, wenn ich auf der Straße oder im Flur bei der Arbeit auf Menschen zugehe und sie mir entgegenkommen. Ich spüre eine Tendenz, mich in diesem Bereich des Körpers anzuspannen, immer bereit, den Schlag zu empfangen. Und auch wenn noch kein Wort gesprochen wurde, scheint alles bereits über unseren Körper kommuniziert worden zu sein.


Ist dir schon mal aufgefallen, dass du dein Kinn ein wenig anhebst und dein Gegenüber auch? Bereit zum Kampf, obwohl ihr beide vielleicht sogar gleichzeitig lächelt. Wie verzerrt ist unsere Realität!


In der Vergangenheit habe ich mich sehr gewunden, wenn ich auf der Straße auf jemanden zuging. Ich bereitete mich schon Sekunden vorher vor, wenn sich mir jemand näherte. Als müsste ich sicherstellen, dass sie sich nicht von mir bedroht fühlten, oder besser noch, dass sie mich mochten, also habe ich mich klein gemacht, damit sie sich besser fühlten - so glaubte ich zumindest.


Heutzutage ist es sehr offensichtlich, wie sehr Frauen einen Schutzwall um sich aufbauen. Wie sehr Frauen glauben, sie müssten die Starke spielen, um mit Männern mitzuhalten oder mit der Eifersucht anderer Frauen und mit den Umständen, in denen wir leben, umzugehen. In Wirklichkeit verbirgt sich dahinter eine immense Unsicherheit.


Die Exquisitheit der Frauen und ihre angeborene fürsorgliche, zärtliche Qualität scheinen keinen Platz mehr zu haben. Es scheint altmodisch zu sein.

Alles soll in einen Kampf münden. Man kämpft für seine Rechte, für seine Gleichheit, für gleiche Löhne, dafür, ernst genommen zu werden und so weiter. Und auf diese Weise wird unsere Sensibilität total angegriffen und zerstört. Wir spüren es vielleicht nicht, aber durch das Beispiel am Anfang wurde für mich sehr greifbar, wie anders sich der Körper anfühlt, wenn er verkrampft ist, als wenn er entspannt ist, und auch wie sich unsere Interaktionen verändern, wenn wir den Fokus auf diesen Teil des Körpers lenken und ihn einfach loslassen. Äußerlich ändert sich scheinbar nichts, aber das Ergebnis ist gigantisch.


Die Person, die dir entgegenkommt, fühlt sich sofort nicht mehr bedroht und fühlt sich sicher, deinen Blick zu halten. Probier´s aus, Du wirst es spüren!


Es hat auch eine erstaunliche Wirkung auf der Bühne. Wenn ich diesen Schutz gegenüber dem Publikum loslasse, habe ich sofort keine Angst mehr, den Text zu vergessen.


Wir sind so daran gewöhnt zu glauben, dass das Festhalten an etwas wie dem Text, der Intensität der Emotion im Körper, dem Sicherheitsnetz der einstudierten Aufführung uns Sicherheit gibt. Aber das ist eine Lüge.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich mich dann sehr stumpf und nicht lebendig fühle, und so ist auch mein Spiel, wenn ich es jeden Abend wiederholen muss.


Wenn ich meinem Körper erlaube, loszulassen und zu spüren, was um ihn herum geschieht, ohne mich darin zu verlieren, dann gibt es unzählige Möglichkeiten, die gleichen Dinge zu spielen und die gleichen Sätze immer und immer wieder zu sagen, und trotzdem wird es jeden Abend ganz anders klingen.


Jeden Abend wird etwas anderes für diejenigen gebraucht, die zusehen - wer bin ich also, zu wissen, zu beurteilen oder mich einzumischen, was durch mich durchkommt?




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